leere Kinostuhlreihen aus rotem Stoff von hinten

Nelkenrevolution

50 Jahre Nelkenrevolution in Portugal

Zwei Filme zu nennen, die über die Jahre in keinster Weise ihre politische Aussagekraft verloren haben, fällt mir leicht. Der eine: OTHON – LES YEUX NE VEULENT PAS EN TOUT TEMPS SE FERMER OU PEUT-ÊTRE QU'UN JOUR ROME SE PERMETTRA DE CHOISIR À SON TOUR (DIE AUGEN WOLLEN SICH NICHT ZU JEDER ZEIT SCHLIESSEN ODER VIELLEICHT EINES TAGES WIRD ROM SICH ERLAUBEN SEINERSEITS ZU WÄHLEN) von Straub/Huillet aus dem Jahre 1970.
Im Gespräch mit Klaus Eder und Wolfgang Limmer sagte Jean-Marie Straub damals: »Es ist ein Film über einen kleinen Teil einer Klasse, die die Macht besitzt; und die so gezeigt wird, dass man den Eindruck hat, das alles muss verschwinden, muss weggefegt werden. Erstens. Zweitens ist es ein Film über die Abwesenheit des Volkes in der Politik. Drittens: Es ist ein Film darüber, dass alles ganz anders sein sollte.«
Und auf die Frage, ob es überhaupt einen Zusammenhang gäbe zwischen der Zeit des Pierre Corneille und 1970 antwortete er: »Ja. Es hat sich überhaupt nichts geändert. Das römische Reich und der Kapitalismus sind beide bis zu einem Punkt gekommen, an dem sie nur noch Ruinen produzieren können, weil die Leute, die das System aufgebaut haben, darüber nicht mehr mächtig sind, nicht einmal über ihr eigenes System. Die bürgerliche Politik in unseren bürgerlichen Demokratien wird weiter von einer Minderheit gemacht, die über das Schicksal von 99 Prozent des Volkes entscheidet.«
An anderer Stelle präzisiert er: »Und wenn nicht allzu viele während des Films abschalten, werden wir, Sie als Gebraucher und ich als Macher, schon einen kleinen Sieg errungen haben gegen die Dummheit, gegen die Verachtung, gegen die Zuhälter der Filmbranche, die aus eigener Verachtung und Dummheit meinen: die Filme seien nie dumm genug für das Publikum.«
Womit wir bei so etwas wie politischer Transformation wären, der Umsetzung von Ideen in Handeln – und somit beim zweiten Film meiner Wahl: Er stammt von Thomas Harlan. Aus dem Jahre 1975: TORRE BELA. Ein poetisch-politisches Zauberstück. Zugleich Teil der Nelken- Revolution in Portugal als auch ihre Dokumentation. Ein Film, der sich einmischte und dessen Geist bis heute fortdauert. Ein Film, der Hoffnung macht, auch wenn heute alles viel komplexer und aussichtsloser geworden ist. Ein zutiefst humaner Film. Radikal. Poetisch. Und politisch.
Radikal: Vielleicht erinnern sich noch einige, die das hier jetzt lesen, an den 11. September? Nein, nicht den des Jahres 2001, sondern den des Jahres 1973. Ich war 20 Jahre alt, und Salvador Allende Präsident von Chile. Er starb an diesem Tag, in Folge eines Militärputsches. Henry Kissinger, der damalige Außenminister der USA, sagte später, sein Land habe diesen zwar nicht selbst gesteuert, aber die größtmöglichen Voraussetzungen für denselben geschaffen. Was sich wunderbar unter so friedvoll-freundlichen Formulierungen wie »Militärhilfe« etc. verbergen lässt. Und in jenem Fall zu 80 000 Toten führte.
Nun ist an dieser Stelle nicht der Raum für politische Analysen, nur so viel: Sehr vielen Staaten dieser Erde wurde eine solche amerikanische Hilfe zuteil, leider allzu häufig nicht eben zu deren Vorteil. Für Thomas Harlan jedenfalls schien sich hier eine exemplarische Situation zu bieten, und so wollte er Anfang 1975 ebendort, in Chile, ein Filmprojekt realisieren. Dann aber wurden plötzlich Personen aus seinem Umfeld verhaftet und Harlan entschied sich um. Er entschloss sich, mit seinem Team nach Portugal zu gehen.
Nach 48 Jahren Diktatur hatte sich die dortige Gesellschaft besonnen: Es herrschte eine politische Krise, gesellschaftlicher Aufruhr, die unbestimmte Vision eine Neuanfangs, Revolution, ein Rausch der Befreiung – all das in statu nascendi. Eine Gelegenheit, die Thomas Harlan sich nicht entgehen lassen konnte, und keineswegs nur, »um einen Film zu drehen, sondern um die Geschichte herauszufordern«. Er schlüpfte, wie José Manuel Costa, der Grandseigneur portugiesischer Filmhistorie wes nennt, »gleichzeitig in die Rolle des Beobachters und in die des Manipulators«.
Thomas Harlan: »Im Revolutionsrat selbst, wo ich, wie auch in den Kasernen, von März 1975 an […] filmte, war eines Tages ein Leutnant aus Santarem in Zentralportugal aufgetaucht, ein Leutnant, der von einer Landbesetzung auf dem Gut des Gestiefelten Katers erzählte, einem Gut der königlichen Familie Bragança: TORRE BELA Nelkenrevolution 68 Torre Bela. Wir beendeten unsere Dreharbeiten im Revolutionsrat noch am gleichen Tag, fuhren auf das eben besetzte Gut, trafen noch auf den Herzog de Laföes, den letzten Eigentümer, dann auf eine aufgebrachte Menge und beschlossen zu bleiben. Wir filmten während der Monate April, Mai, Juni, ununterbrochen. Das Team: amerikanisch-französisch. Wir erfanden einen neuen Filmstil: Wir inszenierten die Wirklichkeit. Wenn wir jetzt ›Dokumentarfilm‹ sagten, meinten wir: Wir zeigen die Wirklichkeit im Entstehen, eine Wirklichkeit, die es vorher nicht gab. Wirklich ist, was die wirklichen Menschen aus ihrer bisherigen Wirklichkeit machen, denn ihre alte Wirklichkeit kennen wir nicht. Wir kennen nur die Arbeit, die die Menschen machen, die auf den Mund zeigen und sagen: Früher wollten wir damit nur essen, jetzt sprechen wir damit. Die Menschen, die nie wirklich hatten arbeiten dürfen, Tagelöhner, waren stolz auf ihre Bewegung, die Bewegung der Streitkräfte. Sie waren so stolz, dass sie sich auch nicht von Soldaten einschüchtern ließen, die herbeieilten, um die Landbesetzung zu verhindern. Das Land blieb besetzt.«
Poetisch: Die Nelkenrevolution (Revolução dos cravos) begann am 25. April 1974 mit einem Aufstand breiter Kreise des Militärs, der sog. Bewegung der bewaffneten Streitkräfte (Movimento das Forças Armadas = MFA). Dank der breiten Unterstützung durch die Bevölkerung verlief die Revolution weitgehend unblutig. Selbst die nicht an der Verschwörung beteiligten Militärs liefen schnell zu den Aufständischen über. Bereits nach 18 Stunden war die Nelkenrevolution beendet. Ihren Namen erhielt sie nach den roten Nelken, die die Bevölkerung den Aufständischen als Zeichen ihrer Solidarität in den Gewehrlauf oder an die Uniform steckte.
Politisch: TORRE BELA hatte in Cannes Premiere und lief in unterschiedlichsten Schnittfassungen in der ganzen Welt. Vor allem in der so genannten Dritten Welt. Und beeinflusste dort die Befreiungsbewegungen.
Bewegungen: »Nur was sich bewegt, existiert« war Thomas Harlans Maxime bei diesem Film. Und so wurde er eine einzige Bewegung. Das macht ihn so groß. Der Kameramann Russell Parker »bewegt sich mit der Bewegung der anderen, mit der Kamera auf der Schulter. Wenn sich nichts mehr bewegt, ist alles zu Ende.«
Ein gutes Jahr später, im November 1976, ist das Märchen von TORRE BELA allerdings wieder ausgeträumt. Schön, dass uns José Filipe Costas Film LINHA VERMELHA 2011 nochmals an diesen Ort führt. Der blaue Himmel der Revolution ist natürlich längst entschwunden. Was bleibt, ist dieser Film. Und das ist ein Glück. José Manuel Costa nennt ihn einzigartig. Und, ja, er ist einzigartig. (Michael Farin)

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